HIDDEN PLACES | 2022
Alexander Leinemann Kunsthistoriker
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sprengel Museum Hannover
Typologien einer alltäglichen Einsicht
Eigenbezogene Bestätigung
Eine der größten Errungenschaften der Fotografie ist ihre Schnelligkeit. Innerhalb der Jahrhunderte weiterentwickelt und zu höchster Präzision herangeführt, gehört der fotografische Schnappschuss heute zum Grundvokabular des Mediums. Definiert ebenjene Bezeichnung das rasche Zücken des allzeit präsenten Fotoapparates, so kommt dem dabei vorherrschenden Schaffensakt eine innewohnende und von unterschwelliger Vehemenz befindliche Haltung zu Teil. Diesem Benehmen obliegt im Moment der Durchführung unweigerlich und auf meist lautstarke Weise konkretisiert, folgende bekannte Äußerung: »Ich allein habe es gesehen!«
Das von schnappschussartiger Manier geleitete Foto, so missionarisch es im Kontext der Vermittlung von realbefindlich ablaufenden Prozessen auch verstanden wurde, besaß seit jeher auch eine ichbezogene Tendenz des alleinigen Mitteilungsbedürfnisses. Es verwundert daher auch nicht, dass in der alltäglichen Bildschaffung der festhaltende, dokumentierende, um Klarheit gewillte und doch den Drang nach menschlich-innwohnender Bekräftigung befriedigende Schnappschuss zu einem der wesentlichsten Ausdrucksmittel der Fotografie wurde.
Die Kunst, den Überblick zu behalten
Der rasch getätigten Aufnahme ist somit eine grundlegende Form der Gegensätzlichkeit zuzusprechen. Dennoch ist der gedacht-gegenwärtige und indessen stets vergangene Moment zum im fotografischen Bild einzufangenden Augenmerk höchster Eindringlichkeit erklärt worden. Indem aber Bewegungsabläufe sichtbar, zuvor Uneinsichtiges visualisierbar und jedes von plötzlich überkommender Relevanz bestimmte Ereignis von einer kollektiven Litanei, die den fotografischen Moment der realbefindlichen Begegnung vorzog, durchsetzt wurde, entstand ein trügerischer, am Medium sich abarbeitender Kreislauf von bis in die Gegenwart reichender Beeinflussung. Getreu dem im kollektiv-knipsenden Handeln verinnerlichten Denken, dass das nächstfolgende Foto schon irgendwie zu einer ganzheitlichen Klarheit führen werden wird, ist eine unüberschaubare und von wenig selektiver Betrachtung bedingte Bilderflut das unumgängliche Resultat geworden. In der immerwährend um Authentizität bedachten Wiederholung gefangen, wurde das dem Moment unterstellte Foto somit zum Träger einer erhofften und doch niemals wiederkehrenden Präsenzvermutung. Im Glauben an eine mutmaßlich bestehende Möglichkeit, durch Detailgenauigkeit, Schnelligkeit und der stets wiederholbaren Abfolge, eine Wiederkehr des Vergangenen einsichtig werden zu lassen, führte dieses hoffnungsvolle Begehren zu einer Reflexion, die dem Foto bereitwillig die Eigenschaft zubilligte, ein Abbild von realbefindlichen Einsichten präsentieren zu können.
Ein Foto wird jedoch niemals die Realität vollends abbilden oder das unumgänglich Unfassbare eines Moments in bildimmanente Form überführen können. Erst ein weitaus umfassender und sich fern der bekannten Bereiche einzuordnender Eingriff auf künstlerischer Ebene ist dazu in der Lage, Momente der fotografischen Eindringlichkeit zu initiieren, die das Momenthafte auf eine ungeahnt gegenwärtige Ebene verlagern und zu Momenten von anwesender Bedeutsamkeit werden lässt.
Wenn Momente zur gegenwärtigen Bestimmtheit werden
Der deutsche Künstler Roman Thomas nutzt die Fotografie auf unterschiedlichste Weise.
Seine großformatigen Arbeiten fordern den Betrachtenden heraus und lösen bisweilen dessen vorherrschende Betrachtungsroutine auf. Aus wahrnehmungsbedingt etablierter Starrheit und auf monoperspektivischer Ebene stets erhoffter Zugänglichkeit, erfolgt eine durch die Bilder geschaffene Verlagerung von teils kritisch anzumerkender Konfrontation. Roman Thomas Bilder beinhalten immer wieder ersuchte, gefundene und fotografisch festgehaltene Individuen. Ebendiese befinden sich dort, wo der Mensch seine architektonischen und von der darauffolgend agierenden Gesellschaft frequentierten Spuren hinterließ. An diesen teils bekannten und bildlich vorgemerkten Orten interveniert der Künstler mit seiner Fotografie, indem er das, was imaginäre Verortung und Verinnerlichung ermöglicht, verrückt. Das, was der Mensch zur Ein-, Aus- und Umgrenzung seines zueinander und doch voneinander getrennt fungierenden Zusammenlebens auf begrenztem Raum erschaffen konnte, wird in den großformatigen Fotografien zum Akteur einer umfassenden und doch stillen Vermittlung. Arbeiten wie »Whitby Street« (2017), »Two Towers« (2017) oder »Steps to Heaven« (2017) bilden zunächst zwar allzu bekannte Orte in bildlich einzusehender Form ab. Der vorrangige Schein des Bekannten trügt jedoch, obliegt all diesen Aufnahmen eine zwischen Vorstellung und Realität befindliche Kluft, die ein erhofftes Wiedererkennen sofortig torpediert. Die großformatigen Arbeiten des deutschen Künstlers präsentieren unterschiedliche und doch zueinander ähnlich zu bezeichnende Bildsituationen, die den jeweiligen Betrachtenden mit der Einsicht konfrontieren, dass der fotografisch geschaffene Bildraum zwar auf realbefindlich Existierendes verweist. Das, was jedoch Aufnahmen wie »Whitby Street« (2017) offerieren, ist die zum Bild gewordene Erkenntnis, dass der fotografisch-orientierte Blick und die Beharrlichkeit des Künstlers zu einem Kunstgegenstand geführt haben, dessen Bildlichkeit eine einmalige und allein für sich stehende Materialisierung darstellt. Aus der Realität wurde eine im Bild fortwährende Wirklichkeit geschaffen, die dazu im Stande ist aufzuzeigen, dass die Eindringlichkeit der großformatigen Aufnahmen nicht allein im Aspekt der außerhalb befindlichen Wiedererkennung, sondern in der innerspezifischen Erkenntnis fungieren, einen Ort einsichtig gemacht zu haben, der intuitiv gedacht, wahrgenommen und zum Foto überführt werden konnte.
HIDDEN PLACES | 2020
Christiane Hoffmann M.A.
Museumsleiterin und Kunsthistorikerin
Galerie Serpil Neuhaus in Gütersloh
Fotografie als Kunstform hat ihre große Bedeutung als selbständige Position im Kunstbetrieb u.a. der Düsseldorfer Kunstschule und dem Fotografenehepaar Bernd und Hilla Becher und der Schülergeneration Gursky, Ruff, Struth, Höfer zu verdanken. Scheinbar weg von der Modefotografie gehören das urbane Leben und die Orte in der realen Welt zu den Themen der Fotografie.
Roman Thomas, Sohn eines Fotografen, hat von klein auf eine intensive Beziehung zur Fotografie. Mit einer Tischlerlehre und weiter an der FOS Gestaltung, führte sein Weg beruflich in die Fotografie.
Heute als Fotograf für namhafte Industrieunternehmen aus dem Bereich Möbeldesign und für Architekten weltweit im Einsatz, hat Thomas schon viele Orte der Welt gesehen und mit dem Blick des Künstlers und Fotografen aufgenommen.
Aufgenommen im doppelten Sinn: Aufgenommen mit allen Sinnen und mit seiner Kamera. Er lässt sich auf die Orte die er besucht ein, nimmt Architektur, Menschen und Farben auf und kommt mit all diesen Elementen zu seiner eigenen Sichtweise und zu seinen Ideen. Er weiß genau, was er zeigen will. Welche Elemente an Licht und Linienführung im fertigen Bild eine Rolle spielen sollen. Wie Gefühl, optischer Eindruck und gewähltes Thema hier Eingang finden sollen.
Dabei kann es sein, dass eine Aufnahme die gewünschten Elemente im Zusammenspiel bereits zeigt. Es kann aber auch sein, dass viele Bilder eines Blickwinkels entstehen müssen, die zu einem konstruierten, neuen Bild verschmolzen werden. Die digitale Montage erlaubt, von einem Motiv z.B. das sich verändernde Lichtspiel und Personen, die im Laufe der Session nur in einem einzigen Bild vorkommen, in die Komposition einzubinden.
Das Ereignis wird zu einem Gleichzeitigen des Ungleichzeitigen, ohne dass der Betrachter dieses merken kann.
Roman Thomas führt so Regie in seinen Arbeiten. Die Anlage und Komposition seiner Arbeiten beschreibt er mit „Erstellung von Traumbildern“ und weniger als „Wirklichkeitsbilder eines One-Shoot“. Damit ist gemeint, dass seine individuelle Idee, seine Seherfahrungen und sein subjektives Empfinden hier die letzte Instanz für seine Arbeit bilden.
Die berühmte fotografische Realität als Wirklichkeitsabbild wird hier trotz aller Nähe zum Motiv und der individuellen Nacherlebbarkeit an Ort und Stelle unterlaufen. Architekturen inmitten von Metropolen, werden in Thomas Arbeiten zu flächigen, reliefartigen Bühnenbildern. Ihre Staffelung wird unsichtbar geschichtet. Die erreichte Bildwirkung, noch gesteigert durch die großformatige Entwicklung, kann man als Betrachtungssog beschreiben.
Menschenleere Orte wie in der Arbeit „Steps to heaven“ sind ohne die christliche Ikonografie der Himmelsleiter nicht denkbar. Bei Thomas fehlen die Menschen, nur Platzhalter ihrer Existenz, wie die abgestellten Fahrräder sind sichtbar.
Das Motiv des Aufstieges ist trotzdem für jeden Menschen verständlich. Das Bild ist wie eine Einladung den Aufstieg zu wagen, da frontal zum Betrachter ein Zebrastreifen als Einstieg ins Bild zu erkennen ist.
Hier ist ein öffentliches, architektonisch geprägtes Raumgefüge die Einladung an die Betrachterin, eine persönliche Chiffre für Lebenserfolg und Lebensstufen anzunehmen. Die Sehnsuchtsrichtung geht in dieser Arbeit nach „Oben“. Man möchte ins verdeckte Licht (durch die Reflexe des Himmels gegenläufig in der Spiegelfassade montiert) gelangen. Auch wenn von unten betrachtet die obere Ebene dunkel massiv in nicht zu entschlüsselnde Bogenformen ausläuft. Trotzdem gibt es Licht und vermutlich Helligkeit, auch wenn dieses vielleicht nur aus elektrischen Lichtquellen besteht.
Die Lesbarkeit der Arbeiten von Thomas ist immer gegeben und der Fotokünstler verwirrt die Sinne der Betrachterin nicht vollends.
Menschenleere Räume in großen Architekturen sind für Menschen aufgrund seiner Evolution immer bedrohlich oder unangenehm. Wenn die Bildrichtung aber wie in „Old House“ in Hochhausschluchten auf ein altes Backsteingemäuer aus der Vergangenheit fällt, wird die Schroffheit und das gefühlte Unwohlsein gemildert. Der überschaubare Baukörper mit den kleinen Ausmaßen ist angenehmer und heimeliger als die Riesen um ihn herum. Nur die abweisenden dunklen Fensterhöhlen brechen auch diese Heimeligkeit. Die stählernen Wolkenkratzer aus Metall und Glas, die die Straße und das Haus als Relikt einer anderen Zeit einfassen, scheinen für anderes bestimmt zu sein, als für menschliches Leben.
Der Straßenname als „Spital Yard“ zieht noch eine weitere Ebene ins Bild, die fast wie eine Ironisierung wirkt. Gefühlte Einsamkeit und aus der Zeit gefallen sein beim Betrachten der Gasse mit dem alten Haus, wird gebrochen durch den traditionellen Erwartungshorizont an ein Spital=Hospital=Krankenhaus.
Im Krankenhaus erwartet der hilfebedürftige oder verletzte Mensch Heilung, Zuwendung oder Genesung seines kranken Zustandes. Was er sieht ist aber genau das Gegenteil nämlich gefühltes Unwohlsein, Verlassenheit, Überflüssig sein. Keine Heilung nirgends. Hoffnung und der Sog in den gelben (kranken?) Linien des Weges zu bleiben.
HIDDEN PLACES | 2019
Laudatio von Manfred Zimmermann
Industriephotograf und Prof. (RS)
Kunstverein imago in Bissendorf/Wedemark.
Meine Damen und Herren,
ich wurde gebeten, an dem heutigen Tage eine Laudatio für Roman Thomas zu halten.
Tatsächlich ist es jedoch so, dass es keine wirkliche Laudation sein wird – nicht, weil du noch sehr jung bist, sondern weil Laudatio bedeutet, jemanden zu loben. Ich glaube, das brauchen wir an dem heutigen Tag nicht, denn wir haben hier deine Bilder: Diese Bilder loben dich mehr, als ich das in Worten tun könnte. Darum, und weil wir uns beide schon sehr lange kennen, möchte ich eher eine Beschreibung über deine Arbeit geben, einen kleinen Einblick in dein Leben.
Du bist 1975 in Celle geboren, dort zur Schule gegangen und aufgewachsen. Nach deiner Tischlerlehre hast du die Fachhochschulreife an der FOS Gestaltung erreicht – als nächster Schritt sollte das Studium zum Industriedesigner folgen. Die Ablehnung deiner dort eingereichten Mappe hatte etwas Gutes: Du folgtest deiner Leidenschaft zur Fotografie, eben dieser Fotografie, die durch deine DNA schon festgelegt war. DNA deshalb, weil der Vater von Roman Thomas bereits ausgebildeter Fotograf war und ihm somit unendlich viel mitgegeben hat. In seiner Kindheit hat Roman Thomas viele Jahre in der Dunkelkammer verbracht. Was daraus wurde, sehen wir heute hier – und das ist wirklich beachtenswert.
Deine ersten freien Arbeiten entstanden bereits 1999 in New Mexico. Durch deine Ambitionen zum Grafischen hast du später dein Schaffensspektrum erweitert und bist seither als Fotograf und Grafikdesigner für viele namenhafte Modelabel tätig. Du widmest dich außerdem stark der Architekturfotografie, unter anderem für das Unternehmen Vitra, das international sowohl architektonisch als auch gestalterisch tätig ist. Dadurch hast du das große Glück, weltweit, etwa in New York, zu fotografieren.
In all diesen kommerziellen Prozessen hast du immer auch deine freien Arbeiten mit eingebunden – hier sind Aufnahmen wie diese entstanden: Diese versteckten Plätze, die Hidden Places, aber auch die 4er Serien, auf die ich später noch einmal zu sprechen komme.
„HIDDEN PLACES“, versteckte Orte, das stimmt so nicht ganz, denn die Orte sind gar nicht versteckt. Jeder von uns kann sie sehen und trotzdem würden wir sie so gar nicht wahrnehmen. Nicht nur, weil wir andere Menschen sind, andere Augen haben. Auch nicht, weil Roman Thomas ein besonders geschultes Auge hat, sondern weil in den Motiven noch etwas ganz anderes steckt: Der amerikanische Maler Edward Hopper malte schon in den 30er und 40er Jahren seine „HIDDEN PLACES“, um die Einsamkeit der Menschen zu zeigen. Er hat im Grunde genommen nicht nur wie du, diese ganz leeren Orte gemalt, sondern meistens sind einsame Personen sichtbar, ähnlich wie in deinem Bild „WOMEN IN BLUE“. Zwischen seiner Bildsprache und der deinen besteht ein großer Zusammenhang.
Geht man einmal davon aus, wie hektisch unsere Städte heute sind, mit ihren Leuchtreklamen und den abertausenden an Informationen – dann fehlt plötzlich genau diese Hektik in deinen Bildern. Nun könnte man meinen, du möchtest die Vereinsamung der Menschen in großen Städten zeigen – dabei haben deine Bilder eine so große Strahlkraft der Ruhe und Harmonie, das passt eigentlich nicht wirklich zusammen.
Und dann fragt man sich, ob deine Bilder vielleicht eine Renaissance unserer selbst zeigen sollen? Übersättigt durch Leuchtreklamen und einer Informationsflut der vielen Mails, WhatsApp-Nachrichten und Facebook Posts. Vielleicht zeigen uns deine Bilder ja die Sehnsucht nach Ruhe – nach Ruhe für uns selbst.
Und ich glaube, dass es bei der Betrachtung deiner Bilder tatsächlich dieses gefühlte Detail ist: Sie erzeugen ein Wohlgefühl, eine innere Ruhe. Das ist die Magie deiner Bilder.
Über die Technik deiner Fotografie möchte ich überhaupt nichts sagen, denn das ist jetzt nicht so bedeutend. Viel bedeutender ist das große Format der Werke. Sie sind nicht nur faszinierend, weil sie so schön groß sind. Steht man vor ihnen, erzeugen sie das Gefühl, den Ort betreten zu können. Und das hat nun doch etwas mit der Technik zu tun, die bei dir ausgeprägt brillant ist! Man meint wirklich, die Struktur der abgebildeten Wand mit den Fingerspitzen fühlen zu können!
Die Bilder haben eine gewisse Weichheit, nicht die knallharte Schärfe der Digitalfotografie, sie haben etwas Menschliches und ganz Außergewöhnliches.
ARTIST STATEMENT